Soziale Marktwirtschaft – not!

Warum die Debatte um Bürgergeld und Sozialleistungen das eigentliche Problem verfehlt

Die deutsche Sozialdebatte hat ein Wahrnehmungsproblem. Wer den politischen Diskurs verfolgt, könnte meinen, die größte Bedrohung für unseren Wohlstand seien Menschen, die Bürgergeld beziehen. Nicht die Steuerflucht von Milliardären. Nicht die Spekulation auf Finanzmärkten. Nicht die systematische Umverteilung von unten nach oben seit vier Jahrzehnten. Nein: Das Problem sollen Menschen sein, die mit 563 Euro im Monat über die Runden kommen müssen.

Diese Diagnose ist nicht nur falsch. Sie ist gefährlich falsch. Denn sie lenkt von dem eigentlichen Systemversagen ab – und verhindert damit jede echte Lösung.

Die große Verwechslung: Wer versagt hier eigentlich?

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge bringt es in seinem aktuellen Beitrag im Spiegel auf den Punkt: „Nicht der Sozialstaat versagt, sondern der Kapitalismus.“[1] Was auf den ersten Blick wie eine polemische Zuspitzung wirkt, ist bei näherer Betrachtung eine nüchterne Beschreibung dessen, was seit Jahrzehnten passiert.

Die Logik der Sozialstaatskritiker funktioniert so: Der Staat kann nur verteilen, was die Wirtschaft zuvor erwirtschaftet hat. Wenn die Wirtschaft schwächelt, muss der Sozialstaat schrumpfen. Klingt plausibel. Ist aber eine Verdrehung von Ursache und Wirkung.

Denn die Frage ist nicht, ob wir uns den Sozialstaat „leisten können“. Die Frage ist, warum ein System, das mehr Wohlstand produziert als je zuvor, diesen Wohlstand immer ungleicher verteilt. Warum Produktivitätsgewinne nicht mehr bei denen ankommen, die sie erwirtschaften. Warum Löhne stagnieren, während Gewinne explodieren.

Die Antwort liegt nicht im Sozialstaat. Sie liegt im Kapitalismus, der sich seit den 1980er Jahren fundamental gewandelt hat.

Was die Zahlen wirklich zeigen

Der siebte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung[2] macht deutlich: Armut ist in Deutschland ein Massenphänomen. Nicht weil der Sozialstaat zu großzügig wäre – sondern weil er die massiv gewachsene Ungleichheit der Markteinkommen nur teilweise ausgleichen kann.

Butterwegge zitiert dabei eine entscheidende Zahl: Der Anteil der Ausgaben für die Grundsicherung am Bundeshaushalt ist zwischen 2014 und 2024 von 14 Prozent auf 10 Prozent gesunken. Nicht gestiegen. Gesunken. Von einem „übermäßigen Größenwachstum des Sozialstaats“ kann also keine Rede sein.

Die Eurofound-Analyse für die EU kommt zu dem Ergebnis, dass der Wohlfahrtsstaat die Markt-Ungleichheit im Schnitt um etwa 42 Prozent reduziert.[3] Anders formuliert: Ohne Sozialstaat wäre die Einkommensungleichheit fast doppelt so hoch wie ohnehin schon. Der Sozialstaat ist nicht das Problem. Er ist das Einzige, was ein noch viel größeres Problem halbwegs im Zaum hält.

Die historische Perspektive: Von Black Friday bis zur Finanzkrise

Wer verstehen will, warum Sozialstaaten entstanden sind, muss die Geschichte der Krisen verstehen, die sie notwendig machten.

Der Börsencrash von 1929

Der „Black Friday“ von 1929 war nicht einfach ein Börsenereignis. Er war das Resultat einer extremen Vermögenskonzentration in der „Goldenen Zwanziger“, verbunden mit spekulativen Exzessen und einer völlig unzureichenden sozialen Absicherung. Als die Blase platzte, gab es kein Auffangnetz. Die Folge: eine globale Depression, Massenarbeitslosigkeit, politische Radikalisierung.

Die Lehre daraus führte zum Aufbau moderner Sozialstaaten. In den USA der New Deal, in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg der Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Nicht aus Nächstenliebe – sondern aus der bitteren Erkenntnis, dass eine Gesellschaft ohne soziales Sicherheitsnetz in der Krise zusammenbricht.

Die Finanzkrise 2008

Achtzig Jahre später wiederholte sich das Muster. Wieder extreme Vermögenskonzentration, wieder spekulative Exzesse, wieder ein Crash. Aber diesmal mit einem entscheidenden Unterschied: Die Sozialstaaten waren noch intakt genug, um den schlimmsten Absturz zu verhindern.

Makroökonomische Studien beziffern den „automatischen Stabilisator“-Effekt europäischer Sozialschutzsysteme: Sie federten rund 38 Prozent proportionaler Einkommensschocks und 47 Prozent idiosynkratischer Arbeitslosigkeitsschocks ab.[4] Der Sozialstaat verhinderte, dass aus einer Finanzkrise eine Depression wurde.

Ironischerweise retteten Regierungen die Banken mit Hunderten Milliarden – und begannen danach, Sozialleistungen zu kürzen, um die dadurch entstandenen Schulden abzubauen. Die Verursacher wurden belohnt, die Opfer belastet. Occupy Wall Street war die Antwort: der Protest gegen ein System, das Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert.

Der transatlantische Vergleich: Was passiert, wenn der Sozialstaat schrumpft

Die USA sind das große Experiment dafür, was passiert, wenn man den Sozialstaat systematisch abbaut. Das Ergebnis ist eindeutig – und ernüchternd.

Eine RAND-Studie von 2020 beziffert den Vermögenstransfer von der Unter- und Mittelschicht zur Oberschicht seit 1975 auf etwa 50 Billionen Dollar.[5] Fünfzig Billionen. Das ist kein Tippfehler. Es ist die größte Umverteilung in der Geschichte der Menschheit – und sie ging von unten nach oben.

Das Economic Policy Institute hat die Mechanik dieser Umverteilung dokumentiert.[6] Von 1948 bis 1979 stiegen Produktivität und Löhne in den USA im Gleichschritt: Die Produktivität wuchs um 108 Prozent, die Löhne um 93 Prozent. Das war kein Zufall – es war das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen, die Wachstum breit verteilten.

Dann kam der Bruch. Von 1979 bis 2019 wuchs die Produktivität um weitere 60 Prozent – aber die Löhne eines typischen Arbeiters nur noch um 16 Prozent. Produktivität und Löhne haben sich entkoppelt. Der Mehrwert, den Arbeiter erwirtschaften, fließt nicht mehr an sie zurück. Er fließt an die Eigentümer.

Hätte sich die Lohnentwicklung weiter an der Produktivität orientiert, würde der Median-Arbeiter heute 9 Dollar pro Stunde mehr verdienen. Das sind bei Vollzeit über 18.000 Dollar im Jahr – pro Person. Das ist kein abstraktes Marktversagen. Das ist systematische Enteignung durch Politikwechsel: Deregulierung, Gewerkschaftszerschlagung, Erosion des Mindestlohns, Steuersenkungen für Spitzenverdiener.

Die Reallöhne der Unter- und Mittelschicht stagnierten. Die Lebenserwartung sinkt in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Die soziale Mobilität – das Versprechen, dass jeder es schaffen kann – ist in den USA heute niedriger als in den meisten europäischen Ländern. Daher kam „We are the 99%“ nicht aus einem Uni-Seminar, sondern aus der Straße.

Das amerikanische Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte kam fast ausschließlich dem obersten einen Prozent zugute. Die Reallöhne der Unter- und Mittelschicht stagnierten. Die Lebenserwartung sinkt in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Die soziale Mobilität – das Versprechen, dass jeder es schaffen kann – ist in den USA heute niedriger als in den meisten europäischen Ländern.

 

Europa steht besser da. Aber der Trend geht in dieselbe Richtung. Seit den neoliberalen Reformen der 1980er und 1990er Jahre wächst auch hier die Ungleichheit. Die Lohnquote sinkt, während die Kapitalrenditen steigen.[7] Der Unterschied: Die europäischen Sozialstaaten haben den Fall bisher abgefedert. Die Frage ist, wie lange noch – wenn man sie systematisch demontiert.

Exkurs: Der Mythos vom europäischen Niedergang

Apropos Europa: Gerade jetzt ist es wichtig, einen verbreiteten Irrtum zu korrigieren. Die US-Regierung behauptet in ihrer aktuellen Sicherheitsstrategie, Europa befinde sich im wirtschaftlichen Niedergang.[8] Elon Musk und Jamie Dimon, der Chef von JP Morgan, stimmen ein. Die Erzählung vom abgehängten Kontinent ist populär – und sie ist ein Mythos.

Der französische Ökonom Gabriel Zucman hat sich die Zahlen genauer angeschaut.[9] Sein Befund: „Die Aussage, die EU hinke den USA weit hinterher, ist schlicht falsch.“ Seit 1990 ist das BIP pro Kopf in den USA um 70 Prozent gewachsen, in der EU-27 um 63 Prozent. Das entspricht einem durchschnittlichen Jahreswachstum von 1,6 Prozent in den USA und 1,5 Prozent in der EU. Keine riesige Differenz.

Ja, das Niveau des BIP pro Kopf liegt in den USA 35 bis 40 Prozent höher als in der EU. Aber diese Lücke erklärt sich laut Zucman „überwiegend darauf, dass die Menschen in der EU weniger Stunden arbeiten – und nicht darauf, dass die Europäer weniger produktiv sind.“

Entscheidend ist die Produktivität pro Arbeitsstunde. Nach Daten der World Inequality Database liegt sie in den USA bei 60 Euro pro Stunde – exakt gleichauf mit den EU-Kernländern Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Niederlande und Belgien. Nordeuropa liegt sogar über dem US-Niveau. Die Statistiken der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bestätigen das: BIP pro Arbeitsstunde in den USA 81,8 Dollar, in Westeuropa 83 Dollar.

Zusätzlich erwirtschaften die USA ihr BIP zu deutlich höheren ökologischen Kosten – die CO₂-Emissionen pro Produktionsstunde liegen in der EU signifikant niedriger.

Zucmans Fazit: „Mehr Freizeit, bessere Gesundheitsergebnisse, weniger Ungleichheit, weniger CO₂-Emissionen, und das alles bei weitgehend ähnlicher Produktivität: Die EU kann stolz auf ihr Entwicklungsmodell sein, und die Trumpisten sollten sich etwas zurückhalten – ebenso wie die europäischen Konservativen, die ihnen nachplappern.“

Eine umfassende Studie der Hans-Böckler-Stiftung mit 80 Indikatoren bestätigt diesen Befund.[10] Deutschland steht in 10 von 15 untersuchten Bereichen besser da als die USA. Die Lebenserwartung: 81 Jahre in Deutschland, 76 in den USA – obwohl die USA 16,6 Prozent ihres BIP für Gesundheit ausgeben, Deutschland nur 12,7 Prozent. Die Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner sind in den USA achtmal so hoch.

Der Median-Amerikaner – die Person genau in der Mitte der Einkommensverteilung – lebt nicht wesentlich besser als der Median-Europäer. Er arbeitet nur mehr, ist schlechter abgesichert, und stirbt früher. Der europäische Sozialstaat produziert weniger Milliardäre – aber auch weniger Obdachlose, weniger Menschen ohne Krankenversicherung, weniger Working Poor. Das ist kein Versagen. Das ist eine bewusste Entscheidung für ein anderes Wirtschaftsmodell.

Was die Forschung sagt: Ungleichheit schadet Wachstum

Es gibt ein hartnäckiges Narrativ: Umverteilung schadet dem Wachstum. Wer Reiche besteuert, nimmt ihnen den Anreiz zu investieren. Wer Arme unterstützt, nimmt ihnen den Anreiz zu arbeiten. Das Argument klingt intuitiv plausibel. Es ist nur leider empirisch falsch.

Der Internationale Währungsfonds – nicht gerade eine linke Organisation – kommt in mehreren Studien zu dem Ergebnis, dass hohe Einkommensungleichheit mit schwächerem und weniger stabilem Wachstum einhergeht.[11] Umverteilung durch Steuern und Transfers bremst das Wachstum im Durchschnitt nicht – und kann es über geringere Ungleichheit sogar fördern.

OECD-Analysen bestätigen diesen Befund: Zunehmende Ungleichheit schwächt das langfristige Wachstum.[12] Der Mechanismus ist nachvollziehbar: Wenn ein wachsender Teil der Bevölkerung keine Aufstiegschancen hat, investiert er weniger in Bildung. Wenn die Mittelschicht schrumpft, schrumpft auch die Kaufkraft. Wenn Vermögen sich konzentriert, sinkt die produktive Investition zugunsten spekulativer Anlagen.

Eine LUISS-Studie zur EU-27 zeigt: Höhere Ausgaben für Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung korrelieren mit besseren Indikatoren wirtschaftlichen Wohlstands.[13] Der Sozialstaat ist keine Belastung für die Wirtschaft. Er ist ihre Voraussetzung.

Der Sozialstaat als Konjunkturstütze

Butterwegge macht einen Punkt, der in der Debatte oft untergeht: Ein starker Sozialstaat stabilisiert nicht nur die Gesellschaft – er stabilisiert auch die Wirtschaft.

Die Logik ist simpel: Wenn die Regelleistungen des Bürgergelds sinken, haben über 500.000 Alleinerziehende und Millionen weitere Menschen weniger Geld zum Ausgeben. Das trifft nicht nur sie. Es trifft den Einzelhandel, der weniger verkauft. Die Konsumgüterindustrie. Die gesamte Binnennachfrage.

Ein Euro, der an einen Bürgergeld-Empfänger geht, wird zu fast hundert Prozent wieder ausgegeben – und zwar im lokalen Einzelhandel, beim Bäcker, beim Discounter. Ein Euro Steuererleichterung für einen Milliardär fließt möglicherweise auf ein Konto auf den Cayman Islands. Die „Sparmaßnahmen“ bei Sozialleistungen sparen am falschen Ende. Sie kosten Wachstum, statt es zu fördern.

Erklärung für Skeptiker: Warum Vermögensbesteuerung auch wirtschaftlich sinnvoll ist

Für alle, die immer noch glauben, Reichenbesteuerung sei Neidpolitik: Hier die Kurzfassung in Zahlen.

Fakt 1: Die Vermögenssteuer wurde 1997 ausgesetzt. Seitdem ist das Vermögen der reichsten Deutschen um mehrere hundert Prozent gewachsen. Die Löhne der Mehrheit sind real kaum gestiegen. Das ist kein Zufall – es ist das Ergebnis politischer Entscheidungen.

Fakt 2: Thomas Piketty hat empirisch nachgewiesen, dass die Kapitalrendite langfristig höher liegt als das Wirtschaftswachstum.[14] Das bedeutet: Wer bereits Vermögen hat, wird automatisch reicher – schneller als die Wirtschaft wächst. Ohne Korrektur durch Steuern führt das zwangsläufig zu immer extremerer Konzentration.

Fakt 3: Der IMF – erneut: nicht die Linkspartei – empfiehlt eine stärkere Besteuerung hoher Vermögen und Einkommen als Mittel gegen Ungleichheit, ohne dass dadurch Wachstum leidet.[15]

Die einfache Wahrheit: Ein Milliardär, der zehn Prozent mehr Steuern zahlt, ändert seinen Lebensstil nicht. Ein Bürgergeld-Empfänger, der fünf Prozent weniger bekommt, muss entscheiden, ob er Heizung oder Essen kauft. Die „Leistungsträger-Debatte“ hat den Blick dafür verloren, wer in diesem Land eigentlich die Last trägt.

Wer Wohlstand schaffen will, muss ihn verteilen. Nicht aus Mitleid – sondern weil konzentrierter Reichtum ökonomisch ineffizient ist. Er sitzt auf Konten, statt zu zirkulieren. Er fließt in Spekulationen, statt in produktive Investitionen. Er kauft das dritte Ferienhaus, statt Binnennachfrage zu generieren.

Was wirklich auf dem Spiel steht

Butterwegge warnt davor, dass die rigide Härte in der Sozial- und Flüchtlingspolitik der „zunehmenden Verrohung des Bildungs- und Besitzbürgertums“ entspricht. Das ist keine Übertreibung.

Wenn ein Virologe wie Hendrik Streeck öffentlich die medizinische Versorgung alter Menschen infrage stellt, dann sind wir an einem Punkt angelangt, an dem die Grundnormen des Grundgesetzes – Menschenwürde, Sozialstaatsprinzip – nicht mehr selbstverständlich sind. Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes sind mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet. Nicht weil sie nett wären. Sondern weil die Generation, die das Grundgesetz schrieb, wusste, was passiert, wenn man sie aufgibt.

Butterwegge zitiert Bismarck – und das ist kein Zufall. Selbst der konservative Reichskanzler verstand, dass ein Sozialstaat keine Gnade ist, sondern eine Notwendigkeit. Er führte die Sozialversicherung ein, um den sozialen Frieden zu wahren. Heute wollen manche dieses System in einen „Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat“ zurückverwandeln.

Fazit: Die Scham muss die Seite wechseln

Was Deutschland braucht, ist nicht der Abbau des Sozialstaats. Es ist ein Umbau des Wirtschaftssystems, das ihn unter Druck setzt.

Butterwegge fordert: „Die soziale Scham muss die Seite wechseln – von den Armen, die ihnen zustehende Unterstützung oftmals gar nicht in Anspruch nehmen, zu den Verursachern von Armut.“ Dazu gehören Unternehmer, die Hungerlöhne zahlen. Immobilienbesitzer, die Mietwucher betreiben. Und ja – auch Politiker, die „schmerzhafte Reformen“ durchführen, also Sozialleistungen kürzen wollen, während sie Steuergeschenke für Vermögende durchwinken.

Der Kapitalismus hat versagt – nicht an seinen eigenen Maßstäben gemessen (Gewinne werden noch immer generiert), sondern an den Maßstäben einer demokratischen Gesellschaft. Wachstum, das nur einer kleinen Minderheit zugutekommt, ist kein Fortschritt. Es ist Regression mit besserer PR.

Der Sozialstaat ist keine Last. Er ist das Fundament, auf dem alles andere steht. Wer ihn demontiert, zerstört nicht nur das soziale Netz – er zerstört auch die Grundlage für wirtschaftliche Stabilität, gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Legitimität.

Es ist Zeit, die Debatte vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Anhang: Drei Sätze, die man auch im Aufsichtsrat versteht

Für alle, die lieber in Bilanzen als in Moral denken – hier die Zusammenfassung in der Sprache des CFO:

  1. Sozialstaat ist Infrastruktur. Ohne Absicherung keine Mobilität, ohne Mobilität keine effiziente Arbeitsallokation, ohne effiziente Allokation weniger Produktivität. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege, Alter – das sind keine Randrisiken, sondern planbare Lebensrealität. Der Sozialstaat macht daraus kollektive Versicherung statt individuelle Katastrophe. Und Versicherungen haben eine Eigenschaft, die Märkte lieben: Sie reduzieren Unsicherheit. Weniger Unsicherheit heißt mehr Investitionen, mehr Mobilität, mehr Gründungen.
  2. Ungleichheit ist ein Risikoindikator. Sie senkt langfristig Potenzialwachstum, erhöht politische Risiken und macht Krisen teurer. IWF und OECD sagen das nicht aus Spaß. Wenn die Konjunktur kippt, stabilisieren Transfers und progressive Steuern Einkommen und Konsum – ein eingebauter Stoßdämpfer. Wer „Sozialstaat runter“ ruft, ruft faktisch: Volatilität rauf.
  3. Vermögensbesteuerung ist Risikomanagement. Wenn du die Kosten der Stabilität nicht bei Vermögen hebst, holst du sie dir später über Krisen, Bailouts, Radikalisierung und Standortverlust zurück – nur eben teurer, chaotischer und politisch zerstörerischer. 2008 hat gezeigt, dass Instabilität im Finanzsystem gigantische Folgekosten produziert. Eine stärkere Besteuerung sehr großer Vermögen ist – betriebswirtschaftlich gesprochen – eine Versicherungsprämie.

Warum Vermögen besteuert werden muss – konservativ gedacht

Die Frage ist nicht: Wollen wir den Reichen etwas wegnehmen? Die Frage ist: Wollen wir eine marktwirtschaftliche Ordnung erhalten, die ohne politische und soziale Erosion funktioniert?

Vermögen ist Macht. Sehr hohe Vermögen sind nicht nur „angespartes Einkommen“. Sie sind strukturelle Einflussressourcen auf Märkte, Medien, Politik, Immobilien, Preise. Wenn Vermögen sich stark konzentriert, entstehen Rentierlogiken: Rendite aus Besitz ersetzt Rendite aus Leistung. Konservativ übersetzt: Das ist schlecht für Wettbewerb. Schlecht für Mittelstand. Schlecht für die Idee, dass Märkte Leistung belohnen.

Vermögen zu besteuern entlastet Arbeit. Deutschland besteuert Arbeit und Konsum schwer, Vermögen vergleichsweise moderat. Wenn man den Sozialstaat finanzieren will, ohne die Mitte weiter zu belasten, muss die Bemessungsgrundlage breiter werden. Das ist keine Klassenfrage. Das ist eine Statikfrage: Wer die Last immer auf dieselben Balken legt, darf sich über Risse nicht wundern.

Eigentum ist kein Naturzustand. Es ist ein Rechtskonstrukt. Es existiert, weil Staat und Institutionen es garantieren: Polizei, Gerichte, Kataster, Verträge, Währung, Infrastruktur, Bildungssystem, politischer Frieden – das ist die Plattform, auf der Vermögen sicher wachsen kann. Vermögensbesteuerung ist damit keine Strafe, sondern eine Nutzungsgebühr für Systemstabilität. Oder noch einfacher: Wer am meisten vom stabilen Betriebssystem profitiert, kann auch den größten Beitrag zur Wartung leisten.

Ohne soziale Legitimität wird Eigentum politisch riskant. Eigentum ist in einer Demokratie garantiert durch die Zustimmung der Mehrheit, dass dieses System fair genug ist. Wenn diese Zustimmung erodiert, kommen nicht „bessere Märkte“, sondern populistische Enteignungsfantasien, Sündenbockpolitik, institutionelle Verrohung. Eine klug designte Vermögensbesteuerung ist konservativ betrachtet kein Angriff auf Eigentum – sondern eine Versicherungspolice für Eigentum.

Die drei Standard-Einwände – ernst genommen

„Vermögensteuer ist Doppelbesteuerung.“ Teilweise – aber das Argument ist schief, weil es so tut, als wäre Vermögen bloß „Einkommen im Sparstrumpf“. In der Realität besteht sehr hohes Vermögen oft aus Unternehmensanteilen, Immobilienwerten, Kapitalgewinnen, Monopolrenditen – also aus Wertzuwächsen, die nicht identisch sind mit bereits voll besteuertem Arbeitseinkommen. Außerdem: Auch Mehrwertsteuer besteuert Geld, das schon einmal als Einkommen besteuert wurde. Das System lebt nicht von einem Reinheitsgebot, sondern von Fairness und Leistungsfähigkeit.

„Das vertreibt Kapital.“ Kapital ist mobil – ja. Aber das ist ein Design-Problem, kein Killerargument. Hohe Freibeträge, Stundungs- und Liquiditätsregeln für Betriebsvermögen, Exit-Tax-Mechanismen, internationale Kooperation: Das sind Werkzeuge, keine Utopie. Staaten organisieren längst globale Mindeststandards bei Unternehmenssteuern – warum soll Vermögen sakrosankt sein? Wer behauptet, es gehe nicht, sagt oft eigentlich: „Ich will nicht.“

„Bewertung ist zu kompliziert.“ Kompliziert, ja. Unmöglich, nein. Deutschland bewertet Immobilien und Vermögen in vielen Kontexten bereits – Erbschaft, Grundsteuer, Bilanzierung. Die Frage ist politische Priorität, nicht technische Magie. Dass die Vermögensteuer seit 1997 nicht mehr erhoben wird, hatte mit Bewertungs- und Gleichheitsfragen zu tun – nicht damit, dass Vermögensbesteuerung verfassungsrechtlich verboten wäre.

Die unbequem einfache Rechnung

Der Kapitalismus scheitert selten an mangelnder Effizienz. Er scheitert daran, dass er ohne Korrekturen zu gut darin ist, Gewinner zu produzieren – bis die Gewinner so groß werden, dass der Markt zur Kulisse wird.

Und wenn man „Vermögenssteuer“ sagt, hören viele „Strafe“. Man sollte „Wartungsbeitrag“ hören: für Stabilität, Wettbewerb, Legitimität – und für die simple Wahrheit, dass eine Gesellschaft nicht gleichzeitig maximale Vermögenskonzentration und maximale demokratische Gelassenheit haben kann.

Die Vermögensbesteuerung ist kein Angriff auf Leistung. Sie ist eine Investition in die Bedingung, unter der Leistung wieder zählt.

Quellen

Die vollständigen Quellenangaben finden sich in den Fußnoten. Zentrale Studien:

  • IMF Staff Discussion Note 14/02: Redistribution, Inequality, and Growth
  • OECD (2015): In It Together: Why Less Inequality Benefits All
  • OECD (2015): All on Board: Making Inclusive Growth Happen
  • Eurofound (2023): Developments in Income Inequality and the Middle Class
  • RAND Corporation (2020): Trends in Income From 1975 to 2018
  • LUISS LEAP Working Paper (2024): Welfare Spending and Cross-Country Economic Disparities
  • Piketty, T. (2014): Capital in the Twenty-First Century
  • Butterwegge, C. (2025): Der Spiegel 49/2025
  • Handelsblatt (2024): Europas Niedergang? Der Mythos vom abgehängten Kontinent
  • Priewe, J. (2024): Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland und den USA. Hans-Böckler-Stiftung
  • Frankfurter Rundschau / Zucman, G. (2024): Europa ist produktiver als behauptet
  • Economic Policy Institute (2020): The Productivity-Pay Gap

[1]Christoph Butterwegge (2025): Neue Zahlen zur Armut. Der Sozialstaat? Von wegen, der Kapitalismus hat versagt. Der Spiegel 49/2025.

[2]Bundesregierung (2025): Siebter Armuts- und Reichtumsbericht.

[3]Eurofound (2023). Developments in Income Inequality and the Middle Class in the EU.

[4]McKay, A. & Reis, R. (2016). The Role of Automatic Stabilizers in the U.S. Business Cycle. Econometrica, 84(1), 141-194.

[5]RAND Corporation (2020): Trends in Income From 1975 to 2018. Die Studie beziffert den Vermögenstransfer auf 50 Billionen Dollar.

[6]Economic Policy Institute (2020): Growing inequalities have generated a productivity-pay gap since 1979. Productivity has grown 3.5 times as much as pay for the typical worker.

[7]IMF World Economic Outlook (2007, 2017): The Globalization of Labor; Gaining Momentum?

[8]Handelsblatt (2024): Europas Niedergang? Der Mythos vom abgehängten Kontinent. Die USA ziehen Europas Wirtschaft davon, heißt es oft. Doch stimmt das?

[9]Frankfurter Rundschau / Stephan Kaufmann (26.12.2024): Europa ist produktiver als behauptet – die Zahlen zeigen es. Basierend auf Gabriel Zucmans Analyse.

[10]Priewe, J. (2024): Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland und den USA im Vergleich. Hans-Böckler-Stiftung / Wirtschaftsdienst.

[11]Ostry, J. D., Berg, A., & Tsangarides, C. G. (2014). Redistribution, Inequality, and Growth. IMF Staff Discussion Note 14/02.

[12]OECD (2015). In It Together: Why Less Inequality Benefits All. OECD Publishing, Paris.

[13]LUISS LEAP Working Paper (2024): Welfare Spending and Cross-Country Economic Disparities.

[14]Piketty, T. (2014). Capital in the Twenty-First Century. Harvard University Press.

[15]IMF Fiscal Monitor (2017): Tackling Inequality.

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