Ich liebe Festivals. Spätestens seit ich 2003 auf meinem ersten Taubertal war. 19 Jahre und eine Pandemie später war sie das also. Die Fusion 2022. Ich sitze gerade am Berliner Hauptbahnhof und warte auf meinen Zug zurück nach Frankfurt. Am letzten Mittwoch bin ich in Berlin angekommen. In freudiger und extremer Vorfreude. Das Ticket hatte ich seit 2019. Also 2019 gewonnen – für die Fusion gibt es keinen offenen Ticketshop sondern nur die Möglichkeit über eine Lotterie Tickets zu gewinnen. Die Fusion ist Europas Burning Man – oder besser Burning Man Amerikas Fusion. Sie ist echt. Sie ist ehrlich. Sie ist Urlaubskommunismus in Reinform. Sie ist Tomorrowland ohne aufgeblasene Barbies und Kens, ohne Plastik und ohne Gäste bei jeder Gelegenheit zu melken. Sie ist Sehnsuchtsort und Zufluchtsort zugleich und in meinen Augen das beste Festival überhaupt. 70.000 Menschen feiern sehr ausgelassen und es passiert deutlich weniger als bei vergleichbar großen Festivals.
Dabei ist es auch wirklich interessant zu sehen, dass die Polizei – wohl getrieben von rechten Vaterlands- und Lebensentwurffanatikern das Festival faktisch zerstören wollte. Ganz nach dem Motto: „Das ist nichts für mich – also dürft Ihr das auch nicht…“ Netzpolitik.org hat dazu einen sehr treffenden Artikel geschrieben. Wer sich für mehr dazu interessiert: Hier – gibt’s die PK. Und hier einen Bericht darüber.
Kein anderes Event steht so für ein liberales gewaltfreies Publikum wie die Fusion. Aus meiner eigenen Zeit mit dem SoundBad Festival, erinnere ich mich da noch an ganz andere Rahmenbedigungen von Rock-Events wie dem Rock am Ring ganz zu schweigen. Beim Soundbad war es sogar so, dass sich die lokale Polizei geweigert hat eine Streife über das Festival zu schicken – obwohl wir eigentlich immer alkoholisiertes und gewaltbereites Publikum hatten – das dann von Securities befriedet wurde.
Aber ich wollte eigentlich nicht über vergangenes sprechen, sondern darüber was dieses Festival so besonders und wichtig macht.
Heute ist Dienstag und ich sitze mittlerweile wieder in Frankfurt an meinem Schreibtisch. Meine Stimme hab ich auf dem Festival gelassen, auch wenn sie gerade langsam wieder zurück kommt. Am Samstag habe ich mit einer Zeltnachbarin darüber gesprochen, dass die Fusion mich zwar körperlich zerstört – vier Tage für mich – (dabei geht sie eine Woche) – aber psychisch so gut tut und so wichtig ist. 70.000 Menschen und es stellt sich niemals das Gefühl ein beobachtet, bewertet, eingeordnet oder in irgendeiner anderen Weise belastet zu werden. Wir sind wirklich frei – die Gedanken sind frei, der Geist ist frei. Der Vibe des ganzen ist ein anderer.
Bei Rock am Ring, Hurricane, Southside, oder der Nature One ging es immer um die Musik – als Grund für den Ticketkauf – danach waren wir dort und haben uns einfach nur drei Tage lang massiv mit Alkohol abgeschossen. Gesellschaftlich kein Problem und vollkommen akzeptiert – aber danach passierte eben immer das übliche. Abgefackelte Dixi Toiletten die so heiß brennen dass sogar die metallischen Lichtmasten daneben schmelzen. Alkoholisierte aggressive Gäste die mutwillige alles zerstören das um sie herum liegt. Eine hohe Ziffer an sexuellen Übergriffen und Belästigungen – weil es ist ja Festival – und ich möchte das nicht Mal alles verurteilen (bitte nicht auf die Übergriffe beziehen) Festivals und Events sind immer auch ein Ventil und Rock am Ring natürlich auch geil.
Aber die eigene Freiheit endet eben dort wo die andere eingeschränkt oder sogar gefährdet wird. In anderen Worten – betrinkt euch ruhig – aber lasst Menschen und Dinge danach in Ruhe.
Ich möchte damit auch nicht sagen, dass dies auf der Fusion nicht vorkommt. Bei 70.000 gibt es mit Sicherheit den ein oder anderen Fall. Aber es ist eben nicht die Regel.
Sprechen wir aber Mal über eine zweite Perspektive. Die Fusion kostet eigentlich ca. 120,- € Bei Rock am Ring sind wir jetzt glaube ich bei knapp 250,- bei dem Tomorrowland Plastikfestival sind wir mit 350,- € beim günstigsten Ticket und bei über 1000,- € für ein VIP Ticket. – ja auch das Fusion Ticket 2022 waren eigentlich 220,- € bedingt durch zwei Mal 50,- € Corona pro Jahr – die ich aber gerne bereit war zu zahlen. Und das was die Fusion dafür bietet ist eben eine andere Welt. Kein Riesenrad, keine Jägermeisterschwebebar. Nein eine andere Welt. Eine Traumwelt. Ferienkommunismus. Über 25 Bühnen. Kunst. Vorträge. Austausch. Workshops. Ein Badesee. Fast sieben Tage Programm und noch dazu günstige Preise vor Ort. Wo bekomme ich heute noch ein Bier für 3,50€? Wo bekomme ich eine Essensauswahl von 100+ Ständen mit diversesten vegetarischen Angeboten. Wo wird sogar bei den Toiletten auf Nachhaltigkeit geachtet? Rock am Ring glänzt vor allem durch Geschmacksverstärker Asia Nudeln für 12,50€ und dazu ein Becks‘ für 6,- € alles proudly sponsored by Vodafone oder Telekom.
Versteht mich hier auch nicht falsch. Ich habe viele Festivals besucht und neun Jahre lang ein eigenes Veranstaltet und natürlich ist es ein hartes Geschäft. Ein Konzert mit dem falschen Booking oder schlechten Rahmenbedingungen kann den Veranstalter finanziell killen. Die Fusion ist primär nicht gewinnorientiert und ein Kulturverein. Rock am Ring über die Lieberberg Konzertagentur ein profitorientiertes Unternehmen.
Daher kommen alle Punkte, die ich gerade erwähne, natürlich auch aus diesem Umfeld und aus dieser Historie. Rock Festivals kommen nicht von ungefähr von Rock. Und Rocker waren vor allem in der Anfangszeit die Gäste, die Securities und die Künstler. Der letzte Auftritt von Jimmi Hendrix in Deutschland war z.B. davon geprägt, dass das Festival von einer Rockergang komplett unterwandert wurde, die schließlich noch die Kasse des Veranstalters klauten und die Bühne anzündeten – nicht ohne vorher die PA abzubauen, da der Verleiher Ihnen sympathisch war – wer hierzu mehr lesen möchte, dem empfehle ich:
Rockfestivals in Deutschland: Bestandsaufnahme und Entwicklung von Rockmusik und Festivals von Doreen Schmidt oder
Von Musikern, Machern & Mobiltoiletten. 40 Jahre Open Air Geschichte von Katja Wittenstein und Folkert Koopmans
Ich möchte aber noch auf einen weiteren Punkt der ganzen Branche eingehen und warum die Fusion und andere freie Festivals so wichtig sind.
Die wirtschaftlich-politische Seite. Ein Blick in die USA hilft uns das ganze besser zu verstehen. Wer meiner Leser hat schonmal von Live-Nation gehört?
Der größte Eventverantalter der Welt (vor Corona und ich habe auch gerade etwas zu wenig Zeit das neu zu recherchieren – darum geht es auch nicht – primär). Live-Nation ist viel mehr. Live-Nation kommt zwar von der Promotionseite, hat sich aber schnell auch Locations unter den Nagel gerissen: Live Nation ist im Besitz der Betreiber von 117 Veranstaltungsorten 75 US-amerikanische; 42 ausländische. Dazu gehören 39 Freilichtbühnen, 58 Theater, 14 Clubs und 4 Mehrzweckhallen. Darüber hinaus hat Live Nation das Recht, Veranstaltungen an 33 weiteren Orten zu buchen – wikipedia
Und damit noch nicht genug. Live Nation und sein Firmennetzwerk hält auch Radiostationen, Künstlermanagementagenture, Bookingagenture und TV Stationen. Kurz vor und während des Irak Krieges hat das Unternehmen dafür gesorgt das Regierungs- und kriesgkritische Musik wie z.B. Boom von System of a Down keine Airtime mehr bekommen haben – also nicht mehr gespielt wurden.
Das reichweitenstärkste Entertainmentbetrieb der USA und wohl des Westens ist also ein weiteres konservativ-republikanisch geprägtes Unternehmen, das seine Reichweite offensichtlich zur politischen Einflussnahme nutzt. It’s a business and an influential one.
Mehr dazu gibt es übrigens hier: Das Geschäft mit der Musik: Ein Insiderbericht von Seliger, Berthold
Unser guter Freund Marek Lieberberg und sein Sohn haben zwischenzeitlich die Marek Lieberberg Konzertagentur verlassen und sind Geschäftsführer der Live Nation Germany GmbH. Hinzu kommt das von uns allen geliebte Eventim (Wuchertickets zu Wucherkonditionen mit Wuchersekundärmarkt) und komischen Verbindungen zu unserem Ex-Verkehrsminister Scheuer – das durch geschickte Übernahmen mittlerweile zum größten Ticketshop Europas aufgestiegen ist, der nebenbei noch unsere Maut managen sollte.
Natürlich sprechen wir hier über Europa – und alles ist NOCH nicht so extrem wie in den USA. Aber die Tendenzen sind auch hier klar zu erkennen. Dabei werfe ich Marek nichtmal Böswilligkeit vor. Die Chance noch mehr und größere Events zu veranstalten mit Live Nation war sicherlich verlockend und auch erstmal nicht verwerflich.
Die möglichen Konsequenzen des Ganzen sollten wir aber nicht ignorieren und deshalb ist die Fusion so wichtig. Deshalb sind freie Kunstschaffende so wichtig. Deshalb ist jedes Event abseits einer staatliche regulierten, durchgeplanten und kontrollieren Freizeit so wichtig. Deshalb ist Alles abseits großer Konzerne so wichtig. Macht korrumpiert – und das eben auch im Musikgeschäft. Und da sind wir wieder bei dem einen Punkt. Vielleicht ist so ein Event körperlich anstrengend, auslaugend, extrem – aber gesellschaftlich kann es nicht überbewertet werden.
Wie seht ihr das?
P.S. Keiner der Links ist ein affiliate.