Der Geist vergangener europäischer Größe spukt durch die heutigen Machtzentren des Kontinents. Von den mit Marmor verzierten Hallen in Brüssel bis hin zu den Glas- und Stahl-Türmen in Frankfurt spürt man noch die Echos eines Europas, das einst seine Weltanschauung auf die Leinwand der Welt projizierte. Europa, einst das Zentrum eines weiten, vernetzten Imperiums aus Ideen, Kultur und Handel, steht heute am Scheideweg. Eingeklemmt zwischen den Hämmern amerikanischer Deglobalisierung und chinesischem Staatskapitalismus stellt sich die Frage: Hat Europa die Vision – und den Willen –, erneut eine führende Rolle zu übernehmen?
Über Jahrhunderte hinweg war Europas Verhältnis zur Welt geprägt von Entdeckungen, Innovationen und, unbestreitbar, von Ausbeutung. Die Geschichte unseres Kontinents ist, im Guten wie im Schlechten, untrennbar mit der Weltgeschichte verbunden. Europa hat ferne Länder beeinflusst und wurde gleichzeitig unwiderruflich von ihnen geprägt. Unsere Geschichte ist eine von außergewöhnlichen Errungenschaften, aber auch von dunklen imperialistischen Fehltritten. Wir exportierten Wissenschaft, Philosophie und Kultur, aber auch Unterwerfung und Gier – und hinterließen unauslöschliche, teils schmerzhafte Spuren. Die industrielle Revolution katapultierte Europa zur globalen Dominanz und schuf neues Wohlstandspotential, das zugleich nach neuen Grenzen für die Ausbeutung verlangte. Nach zwei Weltkriegen bauten wir uns unter dem Schutzschild des anglo-amerikanischen Kapitalismus wieder auf und nahmen ein marktgetriebenes Wachstumsmodell an, das grenzenlosen Wohlstand versprach.
Doch dieses Modell, einst das Fundament westlichen Fortschritts, knirscht nun unter dem Gewicht seiner eigenen Widersprüche. Die von Thatcher und Reagan propagierte Doktrin der Deregulierung und des Laissez-faire-Kapitalismus hat tiefe, unheilbare Risse im sozialen Gefüge hinterlassen – in Europa und darüber hinaus. Der Preis für ungebremste Globalisierung und marktwirtschaftliche Orthodoxie war hoch: wachsende Ungleichheit, Umweltzerstörung und eine Generation von Bürgern, die desillusioniert von einem System sind, das viel verspricht, aber den Menschen am Rand wenig liefert. In diesem fruchtbaren Boden der Unzufriedenheit haben Demagogen gedeihen können, die die Frustrationen der Abgehängten nähren. Vom populistischen Furor eines Trump in den USA bis hin zum nationalistischer Aufschwung der AfD in Deutschland, von Le Pens fremdenfeindlicher Rhetorik in Frankreich bis hin zur neo-nationalistischen Bewegung unter Meloni in Italien – diese Figuren blühen in den Rissen unserer Gesellschaft, indem sie Ängste ausnutzen, um Spaltung zu säen.
Gleichzeitig scheint das traditionelle politische Establishment Europas gelähmt, gefangen in Unentschlossenheit und von einer Unfähigkeit heimgesucht, inspirierend zu wirken. Die deutsche „Ampelkoalition“ stolpert, hin- und hergerissen zwischen grünen Idealen und industriellem Pragmatismus. In Frankreich wirkt Macron – einst gefeiert als Visionär eines „neuen Europas“ – zögerlich, gefangen zwischen einer unruhigen Bevölkerung und einer skeptischen Elite. Österreich, einst ein Symbol der Neutralität, ringt mit seinen dunkelsten politischen Impulsen und wählte seine erste rechtsextreme Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg. Das europäische Projekt wirkt zuweilen wie ein aufgeschobener Traum – eine Vision, die durch die unmittelbaren Anforderungen nationaler Interessen getrübt wird.
Währenddessen verschieben sich außerhalb unserer Grenzen die tektonischen Platten der globalen Macht weiter. China, einst die Werkbank der Welt, hat sich zu einer technologischen Supermacht gewandelt, einer kolossalen Kraft, die nun Innovationen ebenso exportiert wie günstige Produkte. Es bietet Waren zu Preisen an, die europäische Industrien erzittern lassen, ermöglicht durch eine einzigartige Mischung aus staatlicher Unterstützung, Regierungskontrolle und geschlossenen Märkten. Auf der anderen Seite des Atlantiks wendet sich die Vereinigte Staaten, lange Europas politischer und kultureller Verbündeter, nach innen, seine traditionelle Führungsrolle zunehmend untergraben von isolationistischer Rhetorik und protektionistischen Maßnahmen. Die Aussicht auf eine zweite Trump-Präsidentschaft droht, die NATO in eine optionales Bruderschaftsnetzwerk zu verwandeln und jene Allianzen zu schwächen, auf die Europa lange angewiesen war.
In dieser zerrissenen geopolitischen Landschaft ist unser öffentlicher digitaler Raum von Algorithmen kolonisiert worden, die außerhalb unserer Grenzen entwickelt wurden und von fremden Interessen getrieben sind. TikTok, das digitale trojanische Pferd der chinesischen Soft Power, serviert europäische Jugendkultur auf einem silbernen Tablett, während Elon Musks X (ehemals Twitter) die dunkelsten Impulse unserer Gesellschaft verstärkt und von Empörung und Spaltung profitiert. Generation Z, jene Digital Natives, findet nun Jobs und Selbstwertgefühl zwischen viralen Tanzvideos, während Wahrheit, Integrität und informierte Debatten in einem endlosen Meer an Desinformation untergehen. Wir sehen uns selbst zu passiven Konsumenten in einer digitalen Landschaft degradiert, in der die Macht anderswo liegt. Die Pandemie hat diese Abhängigkeit so deutlich wie einen Gasleck im Baltischen Meer gemacht und unser Vertrauen auf zerbrechliche globale Lieferketten schmerzhaft offenbart.
Doch in dieser Krise liegt eine Chance – eine Chance, die vielleicht nicht wiederkommt. Europas historische Schwäche war immer seine Uneinigkeit; seine Stärke jedoch paradoxerweise seine Widerstandsfähigkeit und Fähigkeit zur Neuerfindung. Wir Europäer sind stolz auf unsere Werte – Offenheit, Integration, Vielfalt, Umweltverantwortung – aber es fehlt uns oft der kollektive Wille, sie zu verteidigen, wenn es darauf ankommt. Warum tolerieren wir Tech-Riesen, die unsere Demokratie aushöhlen und europäische Steuern umgehen? Warum verlangen wir strenge Umweltstandards von unseren Landwirten, während wir Produkte importieren, die diese Standards höhnisch missachten? Warum akzeptieren wir einen digitalen Raum, der der Wahrheit so schädlich ist, und einen Markt, der dem lokalen Handel so feindlich gegenübersteht?
Die Lösung besteht nicht darin, die Globalisierung aufzugeben, sondern sie zu europäischen Bedingungen neu zu definieren. Stellen Sie sich ein Europa vor, das entschlossen sagt: Wenn ihr Zugang zu unserem Markt wollt, zeigt uns eure Algorithmen. Stellen Sie sich eine Europäische Union vor, die Transparenz und ethische Verantwortung von jedem Unternehmen verlangt, das innerhalb unserer Grenzen Gewinne erzielen möchte. Wenn Amazon nicht seinen gerechten Anteil zahlt, warum verlangen wir nicht Compliance oder verweigern den Zugang? Wenn TikTok die psychische Gesundheit unserer Kinder gefährdet, warum setzen wir nicht Vorschriften, die sie schützen? Wenn ausländische Produkte Menschenrechte oder Umweltstandards ignorieren, sollten sie die gleichen Anforderungen erfüllen, die wir an unsere eigenen Industrien stellen – oder draußen bleiben.
Das Potenzial für eine europäische Renaissance ist gewaltig. Europa besitzt das intellektuelle Kapital, die technologische Kompetenz und das industrielle Erbe, um eine selbstversorgende, widerstandsfähige Wirtschaft aufzubauen. Unser Markt mit 450 Millionen Konsumenten, unsere qualifizierte Arbeiterschaft und unsere reiche Tradition in Wissenschaft und Industrie machen dies nicht nur möglich, sondern auch zwingend notwendig. Von der Pharmazie bis zu Mikrochips, von erneuerbaren Energien bis hin zur KI – der Weg zur europäischen Führungsrolle ist klar, aber er erfordert den Mut zum Handeln. Wir können unsere Zukunft in der Medizin, im nachhaltigen Transport, in Hightech-Sektoren schaffen, in denen europäisches Talent seit jeher glänzt – wenn wir uns entscheiden, in uns selbst zu investieren, anstatt uns passiv auf die Innovation anderer zu verlassen.
Unsere derzeitige Politik verkörpert jedoch oft Heuchelei, indem sie Werte predigt, aber Opportunismus praktiziert. Europas Abhängigkeit von autoritären Regimen für Energie, seltene Erden und Fertigwaren ist kein unvermeidliches Schicksal, sondern eine Reihe von Entscheidungen – Entscheidungen, die kurzfristige wirtschaftliche Gewinne über langfristige Widerstandsfähigkeit stellten. Die Technologieübertragungen, die Chinas schnellen Aufstieg beförderten, durch Joint Ventures und gelockerte Vorschriften, waren Entscheidungen, die sich von Quartalsgewinnen leiten ließen und nicht von strategischem Weitblick. Hätten wir die Weitsicht gehabt zu sehen, wie schnell solche Allianzen in Abhängigkeiten umschlagen könnten, hätten wir verstanden, dass diese Beziehungen zerbrechlich, manipulationsanfällig und letztlich unhaltbar sind.
Es ist an der Zeit, dass Europa nicht ein Jahrhundert der Eroberung, sondern ein Jahrhundert der Überzeugung annimmt. Ein europäisches Jahrhundert, das nicht davon definiert ist, was wir der Welt nehmen, sondern was wir ihr bieten. Ein Wohlstandsmodell, das die Würde nicht opfert, Fortschritt, der die Rechte zukünftiger Generationen respektiert, und Stärke, die nicht die Schwäche anderer erfordert. Der Weg nach vorn sollte nicht darin bestehen, sich von der Globalisierung abzuwenden, sondern sich auf unsere eigenen Prinzipien zu besinnen, getrieben von Werten statt nur von Profit.
Wir stehen an einem einzigartigen historischen Wendepunkt. Das europäische Jahrhundert ist kein Automatismus – es ist eine Wahl. Wir können weiter zwischen den amerikanischen und chinesischen Polen treiben, uns passiv den Strömungen der Geopolitik anpassen, oder wir können unseren eigenen Kurs festlegen. Wir haben die Werkzeuge, die Werte und den Innovationsgeist, den unsere Vorfahren nutzten, um die Welt zu formen. Nun müssen wir diese Qualitäten nutzen, um ein Europa zu bauen, das stark dasteht, nicht als ein altes Imperium, sondern als ein Leuchtfeuer moderner Integrität, Widerstandsfähigkeit und Einheit.
Die Entscheidung liegt bei uns. Lasst uns beweisen, dass unsere Werte nicht nur Relikte einer stolzen Vergangenheit sind, sondern eine Vision für die Zukunft. Lasst uns ein europäisches Jahrhundert schaffen – ein Jahrhundert, das nicht darauf abzielt, zu dominieren, sondern zu inspirieren, durch Beispiel zu führen und ein Vermächtnis von Integrität, Innovation und Gerechtigkeit zu hinterlassen.
Das europäische Jahrhundert erwartet uns – nicht nur als bloße Fortsetzung unserer Geschichte, sondern als Einladung, ein neues Kapitel zu schreiben. Europa kann und muss der Welt zeigen, dass wahre Stärke nicht in Eroberung oder Kontrolle liegt, sondern in Überzeugung, Gemeinschaft und dem Engagement, eine Welt zu schaffen, in der zukünftige Generationen nicht nur überleben, sondern gedeihen können. Die Herausforderung ist gewaltig, aber die Chance ist beispiellos. Werden wir ihr gerecht?